In den letzten vier Wochen blieb alles anders. Das Arbeiten hat sich grundlegend geändert und ist sehr intensiv. Krisenmanagement und der laufende Betrieb sind mehr oder weniger dezentral und ohne persönlichen Kontakt sicherzustellen. Das ist inhaltlich und emotional aufreibend. Aber auch über die Arbeit hinaus blieb in den letzten vier Wochen alles anders. Davon sollen diese Zeilen berichten.
In der Familie haben sich unsere Gespräche am Frühstückstisch total geändert. «Was hast Du heute in der Schule?» war früher oft eine Frage, die ich meiner Tochter stellte. Bleibt alles anders. Seit dem Lockdown der Schulen lautet die Frage: «Wann hast du heute deine erste Skype-Konferenz?» oder: «Wann zoomt ihr euch zum Lernen zusammen?» Oh ja, es sind ganz neue Verben entstanden in den letzten Wochen. «Zusammenzoomen» und «skypen» - heute total normal, vor einem Monat: «Was bitte schön?»
Meine Tochter ist mein 1st, 2nd und 3rd Level IT-Support. Sie kann jetzt einfach alles, was mit Collaborations-Tools zusammenhängt. Egal ob Skype, Slack, Teams, Zoom, Houseparty, Whatsapp, Threema. Durch das Home Schooling beherrscht sie alle Tools spielend und hilft mir aus der Patsche, wenn das Bild wieder flackert oder der Ton stockt. «Wie kann ich den Screen sharen?» (neues Verb!) In Ihrem verständnisvollen Lächeln mischen sich Mitleid und Mitgefühl. Dann stupst sie mich sanft auf die Seite, sagt nichts und signalisiert: «Lass mich mal ran.» Ich hole mir einen Kaffee, sie sagt: «Es funktioniert.» Ich nicke dankend und wortlos. So ist das jetzt.
Ich geniesse es sehr, mit meiner Familie jeden Tag gemeinsam Mittag zu essen. Das ist für mich schön. Die Frage «Wie war es heute in der Schule?» macht keinen Sinn. Stattdessen: «Hattet ihr gute Lern - Communities?» Oder: «Called (Verb!) ihr Euch heute am Nachmittag zum Chatten (Verb!)?»
Statt: «Hast Du die Hausaufgaben gemacht?» heisst es jetzt: «Was musst Du heute noch uploaden?» Auch eines dieser neuen Verben. Selbstverständlich findet vor dem Uploaden das Downloaden (auch ein Verb) statt. Manche Dinge haben doch noch die richtige Reihenfolge. Das bleibt eben gerade nicht anders.
Ehrlich gesagt musste ich auch googeln (das ist nun wirklich kein neues Verb mehr, wirkt in diesen Tagen schon antiquiert!), um wieder genau erklären zu können, wie die Winkelfunktionen im rechtwinkligen Dreieck definiert sind. Jetzt weiss ich wieder, dass man Hypotenuse eben nicht mit «th» schreibt (ganz im Gegensatz zu Ankathete und Gegenkathete, übrigens). Der Satz des Pythagoras bleibt wie er ist. Das gibt es auch noch.
Schon sehr neu war es, als die Gymnastik-Matte ausgerollt und der Laptop auf einem Stuhl davor platziert wurde. Frage: «Was wird das?» Antwort: «Wir haben nachher Sport!» Ja, wirklich. Der Schulsport findet über die Teams-Software statt. Der Sportlehrer korrigiert die Schüler über das Web-Video. Ganz und gar nicht virtuell ist der dabei fliessende Schweiss. Auch Yoga wird neu ganz real virtuell über Zoom gemacht. Die Matten haben das Wohnzimmer erobert. Geht auch. Hauptsache ein wenig Bewegung.
Gestern ist es mir zum zweiten Mal passiert, dass ich den dreckigen Teller in den Kühlschrank räumen wollte. Ich bin damit nicht allein. Auch meiner Frau und meiner Tochter ist das schon passiert. Wir haben es dann alle noch rechtzeitig gemerkt und den Teller der Geschirrspülmaschine übergeben. Wir haben gelacht. Es stimmt mich dennoch ein bisschen nachdenklich.
Der Kontakt zu Freunden und Familie bleibt ganz anders. Wir spielen jetzt über Zoom Trivial Pursuit. Es klappt. Die Not macht auch erfinderisch. Brettspiele, die lange ganz hinten in der Schublade waren, bringen uns neue Freude. Wir schauen mehr Filme gemeinsam. Der Satz «Netflixen wir heute noch?» wurde bisher noch nicht gesagt (kommt vielleicht auch noch und wäre wieder ein neues Verb). Wir kochen viel zusammen. Nur gegen das Pferde-Puzzle mit 1'500 Teilen wehre ich mich – noch – standhaft. Es ist trotzdem ein kleines Drama, dass uns noch immer zwei Randteile fehlen!
In den eigenen vier Wänden bleibt auch alles anders. Unseren Lebensraum beleben wir viel intensiver, weil immer zuhause. Wir entdecken Ecken, aus denen wir noch nie in die Zimmer geschaut haben. Ich merke, wie ritualisiert im normalen Alltag die Wege in den eigenen Räumen sind. Richtige Gewohnheits-Autobahnen. Neue Sichten jetzt. Gestern wurden die ersten Möbel neu arrangiert. Sie standen seit Jahren am gleichen Ort. Stimmt mich auch nachdenklich.
Heute muss ich noch das Eine oder Andere mal webexen (Ha! Noch eines dieser neuen Verben!). Ist kein Problem mehr, denn das Audiosignal wird jetzt über ein externes Mikrofon mit Autolevel-Steuerung glasklar übertragen. Dank Online- Shopping wurde das Problem mit einem Stück neuer Hardware gelöst. Bringt irgendwie mentale Beruhigung. Selbstverständlich war dies erst möglich, nachdem der zusätzliche Treiber downgeloaded (neues Verb, hatten wir aber weiter oben schon) und installiert war. Der Tipp erreichte mich beim whatsappen (Verb, neu!).
Ein wenig tun mir jetzt die neuen Verben leid; sie haben schon viel abbekommen in diesen Zeilen. Aber sie gehören eben einfach nicht in die deutsche Sprache. Trotzdem möchte ich noch eine Lanze für sie brechen weil Verben etwas mit Tun gemeinsam haben. Wenn ich die letzten vier Wochen Revue passieren lasse, dann habe ich auch viel, ganz viel gelernt. Corona lässt langfristig alles anders bleiben. Das erscheint mir sicher.
Es wird noch eine Zeit lang so weitergehen. Wenn ich Tagesschau sehe, dann rücken die Bilder immer wieder ganz viel zurecht. Ich darf gesund sein und durch Distanz einen ganz kleinen Beitrag leisten.
In einem anderen Lied singt Herbert Grönemeyer «Es wird Zeit, dass sich was dreht.» Stimmt. Wir tragen dazu bei und brauchen noch Geduld und Durchhaltevermögen. Bis dahin bleibt alles anders.
Carsten Stolz schreibt nicht zum ersten Mal für unseren Karriereblog. Lies auch diesen Artikel über Agilität!