Pandemien waren bisher mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 1% immer ein extremes Randereignis in der Statistik des Risikomanagements einer Versicherung. Vor einem Jahr wurde aber plötzlich aus Statistik Realität als die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit der Corona-Pandemie konfrontiert wurde.
Der Umgang mit dieser Krisensituation hat viele Facetten und mit der verstreichenden Zeit wächst die Erkenntnis und damit auch die Gefahr, in der Beurteilung dem Rückschaufehler zu erliegen. Die folgenden Zeilen blicken wenig zurück und mehr nach vorne. Sie sollen dafür sensibilisieren, dass temporäre Krisen-Massnahmen nicht zu permanenter Regulierungsverschärfung führen dürfen.
Die folgenden Gedanken nehmen die Aktionärssicht ein. Nicht vorrangig, sondern nachgelagert. Deswegen spielt die Reihenfolge eine wichtige Rolle: Die Aktionärssicht wird eingenommen, nachdem die Versicherungsnehmer ihre Leistungen erhalten haben, nachdem Lieferanten und Partner bezahlt wurden, nachdem Steuern- und Sozialabgaben entrichtet und Regulierungskosten getragen wurden, nachdem Mitarbeitende Löhne erhielten und nachdem verantwortungsvoll mit den natürlichen Ressourcen umgegangen wurde. Der Aktionär trägt letztlich das unternehmerische Risiko; er hat das Risikokapital bereitgestellt und erwartet dafür angemessen entschädigt zu werden. Damit sind wir am Startpunkt: dem Charakter der Baloise-Aktie.
Als börsenkotiertes Unternehmen gehört die Baloise-Gruppe mit ihrem 100% Streubesitz den Aktionären. Die Natur des Geschäftsmodells machen Versicherungsaktien zu starken Dividenden- und Ausschüttungstiteln, welche private und institutionelle Anleger wegen ihrer Ausschüttungskraft und -verlässlichkeit halten.
Anfang April 2020 empfahl die European Insurance and Occupational Authority (EIOPA), ein unabhängiges europäisches Beratungsgremium dringlich – ausgelöst durch Corona – auf Dividenden und Aktienrückkäufe zu verzichten mit Verweis auf die notwendige Erhaltung der Risikotransferfunktion von Versicherungen. Ab dann überlagerte eine aus der besonderen Lage abgeleitete Diskussion die bestehenden regulatorischen und aktienrechtlichen Regelwerke. Hinzu kam, dass Versicherungen als Finanzdienstleister in „den gleichen Topf“ geworfen wurden wie Banken. Es wurde mehr oder weniger direkt mit Opfersymmetrie argumentiert: Es kann nicht sein, dass alle leiden, aber Aktionäre unverändert ihre Dividende erhalten. Bei dieser Forderung wurde nicht berücksichtigt, dass es Aktionäre gibt, deren Geschäftsmodell auf die laufenden Erträge (sprich: Dividenden) aus Aktien angewiesen sind. Dazu zählen nicht zuletzt Pensionskassen, die im Kapitaldeckungsverfahren Vermögen bilden und Renten bezahlen.
«Bei dieser Forderung wurde nicht berücksichtigt, dass es Aktionäre gibt, deren Geschäftsmodell auf die laufenden Erträge, sprich: Dividenden, aus Aktien angewiesen sind.»
Nach der Dividendensaison im ersten Halbjahr 2020 geriet obige Diskussion etwas in Vergessenheit; es war eine trügerische Stille. Im Dezember 2020 mahnte die EIOPA die Versicherer angesichts der Corona-Krise erneut zu „extremer Vorsicht“ bei der Ausschüttung von Dividenden. Die Ausschüttungen dürften auch im nächsten Jahr „die Schwellen der Vernunft nicht überschreiten“ und die Kapitalausstattung der Versicherer nicht gefährden. Die Aufseher in den einzelnen Ländern müssten sicherstellen, dass die Firmen in ihren Solvenz-Planungen die Unsicherheit einkalkulierten, wie stark und wie lang sich die Corona-Pandemie auf die Finanzmärkte auswirken könne und was das für ihre Geschäftsmodelle und ihre Finanzplanung bedeute.
Eingriffe der EIOPA sind im Gegensatz zu den nationalstaatlichen Eingriffen schwierig angreifbar: die «Empfehlungen» werden unabhängig und ohne vorige politische Diskussion ausgesprochen. Sie legitimieren aber darauf folgende nationalstaatliche Eingriffe stärker. Diese Einladung nahmen die nationalen Aufsichtsbehörden bis dato unterschiedlich an. Im Falle der Baloise-Gruppe ist derzeit vor allem die Regulierung seitens der belgischen NBB einschränkend. Die Ende Januar 2021 publizierten NBB-Vorgaben zeigen, dass die Ausschüttungsfrage auf dem Weg in die Dividendensaison 2021 nun noch mehr an Fahrt gewinnt, beschleunigt auch durch allgemein tiefere Solvenz-Niveaus.
Das belgische Netz ist eng gewoben: (1) wenn die geplante Dividende nicht höher ist als das Maximum der Dividenden in den Jahren 2018 und 2019 und (2) die Solvabilität mindestens 150% beträgt und (3) die geplante Dividende kleiner ist als 10% des Solvabilitäts-Eigenkapitals, dann und nur dann steht die Ampel auf Grün.
Der für „normale Verhältnisse“ geltende regulatorische Sockel wurde (hoffentlich wirklich nur temporär) angehoben. Eine Solva-Quote von 100% bedeutet, dass eine Unternehmen in der Lage wäre, alle Verpflichtungen mit einem Schlag zu erfüllen. Die Solvenzberechnung und ihr Mechanismus werden in Frage gestellt, wenn die Berechnung oder die Bedeutung der Solvenz (statt 100% werden plötzlich 150% verlangt) geändert wird.
Es erschwert zudem eine betriebs- und finanzwirtschaftlich sinnvolle Konzernbildung, wenn Verbundvorteile und höhere Kapitaleffizienz durch nationale Regulierung nicht erzielbar sind.
Mit solchen Regulierungen, welche die Ausschüttungsgrenze des Solva-Mechanismus erhöhen, können Dividenden plötzlich unsicher werden ohne dass dies im direkten Einflussbereich des Unternehmens liegt. Die Folge ist schwindendes Vertrauen der Investoren, was für Kapitalkosten und -beschaffung sowie die Beurteilung der Stärke der Unternehmung verheerende Folgen haben kann.
Nun sind all diese Entwicklungen Realität geworden, obwohl sie vor Corona „nur“ ein Szenario mit sehr tiefer Eintrittswahrscheinlichkeit waren. Und – mindestens gilt dies per heute für das belgische Beispiel – mit zeitlicher Befristung (im Falle von Belgien bis vorläufig Ende September 2021).
Regulatoren tun gut daran bei ihren positiven Absichten, das Verhältnismässigkeitsprinzip und die Wirkung von Kraft und Gegenkraft im Auge zu behalten. Es wäre wenig wertschöpfend, wenn sich das Spielfeld künftig verlagern würde: Unternehmen könnten geneigt sein, Cash statt über Dividenden über Zinszahlungen oder Transferpreise von Tochter- zu Muttergesellschaften fliessen zu lassen Gleiches gälte für den verstärkten Einsatz von internem Risikotransfer in seiner Funktion als Kapitalersatz. All dies würde eine weitere Legitimation für Regulation und Überwachung bieten, weil der Rasen neuer Spielfelder mit naturgemäss erhöhten Informationsasymmetrien besät wäre. Die Folge wären weiter erhöhte Komplexität und zusätzliche Regulierungskosten.
Es bleibt offen, ob nach Corona (wenn es denn ein so klares „Danach“ gibt) die ergriffenen regulatorischen Sonder-Massnahmen vollständig zurückgenommen werden. Je verschwommener der Übergang zum „Danach“ ist, umso wahrscheinlicher wird es, dass die Sonder-Massnahmen schnell etabliert und nur langsam und teilweise revidiert werden.
Ende gut, alles gut oder die Geister, die Corona rief? Das wird erst im Nachhinein klar sein. In den kommenden Monaten ist die Rücknahme einschränkender Corona-Regulierung nötig, damit verantwortungsvolle privatwirtschaftliche Unternehmungsführung für die Zukunft ihren Raum behält.