Für mich ist Agilität weniger eine Arbeitsweise, sondern eine Denk- und Verhaltensweise und eine Beschreibung für ein Ergebnis. Das Endziel ist als Unternehmen und in den Teams diese neue Denk- und Verhaltensweisen zu verankern. Dies beinhaltet besonders die Stärkung des Kundenfokus, Transparenz, Selbstbestimmung, Anpassungsfähigkeit und Kooperation sowie die Einführung von lernenden Systemen, Personen und Organisationen. Agilität kann in der Umsetzung zur Erreichung der Ergebnisse für unterschiedliche Bereiche auch unterschiedliche Formen annehmen. Agilität ist somit ein Überbegriff für ein Zusammenspiel an Ergebnissen, die wir als Unternehmen und als jeweiliges Team erreichen wollen.
An dieser Stelle kommt die grosse Enttäuschung: Agilität ist kein reines Methodikthema. Agilität ist nicht gleichzusetzen mit Arbeitsmethoden wie Kanban oder Scrum. Es ist vielmehr ein Einstellungs- und Kulturthema. Wenn man auf dieser Ebene den Wechsel nicht vollzieht, können die üblichen Methodiken einem auch nicht helfen. Die Methodiken dienen dazu ein Ergebnis zu erreichen. Ohne die richtige Einstellung und Unternehmenskultur wird dies schwer werden. Ein Aspekt ist beispielsweise, dass Agilität besonderen Wert auf die kontinuierliche und effektive Fertigstellung von Aktivitäten setzt. Das bedeutet, dass wir uns fokussieren und parallel laufende Tätigkeiten minimieren müssen. Damit vermeiden wir mentale Reibungsverluste, die durch ständige Kontextwechsel zwischen Aufgaben entstehen. Dies entspricht häufig nicht der Ausgangslage, in der Mitarbeiter im Auftrag an verschiedenen Themen parallel arbeiten müssen und die Anzahl der offenen Themen schneller steigt als die Fertigstellungsrate von Themen.
«Agilität zieht in der Führungsaufgabe einen Paradigmenwechsel mit sich.»
Für mich geht Agilität mit dezentraler Verantwortung und Transparenz einher. Es geht um den Zugang zur Information für alle – ganz klar weg von einer Informationsasymmetrie als Lenkungsmanöver. Das bedeutet also, dass man seine Mitarbeiter befähigt, die Experten auf einem spezifischen Gebiet sind. Denn Entscheidungen müssen sinnvollerweise dort gefällt werden, wo das Wissen ist. In klassisch hierarchischen Systemen treffen höherrangige Führungskräfte die Entscheidungen, weil dort erst die Informationen aus den fachlichen Silos zusammenlaufen. Auf den Arbeitsebenen, speziell zwischen Funktionen, gibt es häufig keine übergreifende Informationstransparenz. In agilen Systemen gilt das Prinzip der Informationsoffenheit besonders auch zwischen Funktionen und idealerweise auf allen Ebenen. Somit erhalten die Fachexperten die relevanten Informationen und die gemeinsamen Kontaktpunkte, um auf dieser Ebene Entscheidungen fällen zu können. Dies ändert somit die Entscheidungsebene auf die Fachebene und verändert die Aufgabe einer Führungskraft signifikant. In agilen Systemen ist die Führungskraft nicht mehr der Task Manager und hierarchischer Entscheider, sondern vielmehr eine unterstützende Kraft, welche die Rahmenbedingungen für die Teams und Experten schafft, um fokussiert und erfolgreich zu arbeiten und auf ihrer Ebene die operativen Entscheidungen treffen zu können.
Agilität zieht in der Führungsaufgabe einen Paradigmenwechsel mit sich. Es erfordert ein Wandel vom Management – im Sinne eines «Micro-Managements» bzw. «Aufgabenverteilen» – hin zu Leadership und Sinn-Stiftung. Ein Leader soll eine Vision haben und diese auch vermitteln können, die richtige Richtung angeben, Personen und Budgets zur Verfügung stellen, Prioritäten klären, Teams befähigen und die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Als Führungsperson befähigt man also seine Mitarbeiter und ist Teil der Lösung. Am Anfang fällt das Loslassen sicherlich nicht leicht. Schlussendlich bedeutet es ja auch Abgeben einer gewissen Entscheidungsbefugnis; es bedeutet auch, sich in seiner eigenen Rolle neu zu definieren.
«Agile Arbeitsformen muss man selbst erfahren und erleben. »
Die Veränderung im Allgemeinen, also die Änderung der Rollen und Aufgaben. Man muss eine neue Art zu arbeiten und zu kommunizieren erlernen. Diese Veränderung ist eine Herausforderung. Eine weitere Herausforderung ist sicherlich das unterschiedliche Verständnis von Agilität. Man muss verstehen, dass Agilität ein Lösungsansatz ist, nicht ein beliebig einsetzbares Allgemeinheilmittel oder eine spezifische Arbeitsmethode. Es bedingt also eine Änderung der Unternehmenskultur u.a. in den Bereichen Kommunikation, Zusammenarbeit und Führung. Und Agilität erfordert häufig einen Perspektiven- und Kulturwandel. Dies alles braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu etablieren.
Absolut – es ist klar zu bedenken, dass agile, cross-funktionale Teams nicht im luftleeren Raum agieren können. Wenn man agil arbeitet, merkt man erst wieviel Disziplin und Prozess involviert ist. Agil heisst nicht ungeplant oder «free-flow». Auch die Koordination von agilen Teams in einem Netzwerk bedarf einer Struktur als Alternative zur hierarchischen Steuerung. Darüber hinaus können einzelne agile Teams häufig am Anfang nicht idealtypisch arbeiten, weil die weiteren Rahmenbedingungen im Unternehmen hierfür noch nicht angepasst sind. Zum Beispiel müssen Budgetprozesse, Kapazitätsplanungen, Genehmigungsworkflows und andere Themen in Bereichen wie Finanz, HR, Regulatorik und Compliance angepasst werden, um den Teams die notwendigen Rahmenbedingungen zu geben. Dies alles bildet die Struktur, in der agile Teams arbeiten können.
Dann können unterschiedlichste Abteilungen agil arbeiten und nicht nur die IT Bereiche. So zum Beispiel auch Linienfunktionen wie ein Call Center, die Produktentwicklung, ein Aktuaren-Team oder auch in der Produktentwicklung ist agiles Arbeiten in unterschiedlichen Arten möglich. Wichtig ist jedoch dabei immer, dass es keine Allgemeinlösung für die Methodik gibt. So müssen unterschiedliche Bereiche möglicherweise mit unterschiedlichen Methoden und Ansätzen ihre Probleme und Herausforderungen mit einem agilen Mindset angehen. Was für die eine Aufgabenstellung funktionieren kann, bedeutet nicht automatisch, dass das auf sämtliche andere Gebiete eins zu eins übertragbar ist.
Agilität ist nicht etwas, was anhand einer PowerPoint-Präsentation oder einer Schulung aufgezeigt werden kann. Agile Arbeitsformen muss man selbst erfahren und erleben. Nur dann kann man diese verstehen und davon überzeugt sein. Bei der Baloise schaffen wir Möglichkeiten, in solch einem Umfeld zu arbeiten, eigens zu erfahren und durch eine Lernkurve zu gehen um aus Erfolgen und Rückschlägen zu lernen. Hier unterscheidet sich auch der Hype rund um Agilität von der Realität. Agilität bedeutet häufig mehr Struktur und Disziplin als andere Arbeitsformen. Durch die höhere Lernfähigkeit und Flexibilität und den häufig stärkeren Kundenfokus halte ich einen agilen Mindset und eine entsprechende Arbeitsweise als wesentlichen Erfolgsfaktor für unsere Zukunft. Und Spass macht es auch.